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Vorn im Rennen

Das Auto verändert sich. In Zukunft fährt es mit neuen Antriebstechnologien, bietet digitale Welten, ist zu immer größeren Teilen autonom unterwegs. Die Autoindustrie steht damit vor einer historischen Transformation: Antriebe, Geschäftsmodelle, Konnektivität – alles wird neu gedacht. Wie dieser Wandel gelingen kann, darüber diskutiert Dr. Stefan Wolf, CEO der ElringKlinger AG, mit Hildegard Müller, Präsidentin des Verbandes der Automobilindustrie.

Frau Müller, Herr Dr. Wolf, wenn man die Transformation der Autobranche mit einem Formel-1-Rennen vergleicht, in welcher Phase befinden wir uns?

Hildegard Müller: Nach einem fulminanten Start geht es nun in die erste Kurve.

Dr. Stefan Wolf: Da stimme ich zu, wobei das Rennen nun sehr schnell an Fahrt aufnimmt.

Erste Kurve bedeutet: Das Rennen läuft noch lange.

Müller: Für eine erfolgreiche Transformation benötigt man einen langen Atem. Dass wir uns noch in der frühen Phase des Rennens befinden, erkennt man daran, dass der politische und rechtliche Rahmen erst jetzt steht. Jedes Rennen benötigt eine solche klare Kennzeichnung von Richtung und Strecke. Diese gibt es nun: Die Ampelkoalition will 15 Millionen Elektroautos bis 2030, die EU-Richtlinie „Fit for 55“ formuliert das Ziel, den CO2-Ausstoß bis 2030 im Vergleich zum Stand des Jahres 1990 um 55 % zu reduzieren. Das sind ambitionierte Ziele, und die deutsche Autoindustrie ist bereit, für diese gewaltige Mammutaufgabe der Transformation ihre PS auf die Straße zu bringen.

Wie beurteilen Sie die Chancen der deutschen Autoindustrie bei diesem Rennen?

Wolf: Vielleicht führt die deutsche Autoindustrie das Rennen aktuell noch nicht in allen Bereichen an, doch in vielen Feldern ist deutsche Technologie weltweit führend. Wir sind insgesamt stark genug aufgestellt, um ganz nach vorne zu fahren. Entscheidend für den Erfolg wird sein, dass wir technische Entwicklungen auf den Markt bringen, die sich global vermarkten lassen. Klimaschutz ist kein deutsches oder europäisches, sondern ein globales Thema. Mit dem Verbrennungsmotor haben die deutschen Autobauer und Zulieferer viele Jahre lang gezeigt, dass sie in der Lage sind, die weltweit beste Technik zu entwickeln. Nun kommt es darauf an, dass es uns gelingt, auch bei diesen neuen Technologien führend zu werden.

Müller: Wobei auch klar ist, dass ein solches Rennen die eine oder andere enge Kurve sowie Überraschungen bietet. Denken Sie an die Formel 1: Wenn es plötzlich zu regnen beginnt, dann müssen die Teams schnell reagieren und andere Reifen aufziehen. Genau so sind wir als Autoindustrie gefordert: Wir müssen reagibel sein. Gefragt ist aber auch der Staat. Er muss dafür sorgen, dass wir die bestmöglichen Rahmen vorfinden, um tatsächlich unsere volle Leistung abrufen zu können.

Die Begegnung fand im China Club in Berlin statt, nur einen Steinwurf entfernt vom Brandenburger Tor.

An welche Maßnahmen denken Sie konkret?

Müller: Drei Punkte. Erstens: Wer als Staat ambitionierte Klimaziele formuliert, muss der Industrie auch optimale Standortbedingungen garantieren mit Blick auf Steuern, Abgaben, Umlagen und Energiekosten. Zweitens muss die für diese Transformation notwendige Infrastruktur gegeben sein, eine digitale Infrastruktur, aber auch genügend Ladesäulen und Energie. Das ist ein kritischer Faktor, weil schon jetzt offenkundig ist, dass die Menge der bei uns produzierten erneuerbaren Energie nicht ausreichen wird, den gigantischen Strombedarf zu decken, der 2030 in Deutschland Realität sein wird. Drittens haben zuletzt die geostrategischen Herausforderungen an Bedeutung gewonnen. Das erleben wir aktuell mit der Rohstoffknappheit, aber auch angesichts wirtschaftlicher Konflikte zwischen Staaten. Bei allen drei Punkten sind wir als Autoindustrie vom staatlichen Handeln abhängig. Anders gesagt: Wir können das Rennen nicht allein gewinnen. Unser Appell lautet: Jeder, der an dieser Transformation beteiligt ist, muss jetzt die Ärmel hochkrempeln und mitarbeiten.

Wolf: Wobei wir einen zentralen Akteur nicht vergessen dürfen: den Verbraucher. Unabhängig davon, welche Ziele der Staat formuliert, ist am Ende er es, der über den Erfolg der Elektromobilität entscheidet. Und er wird sich nur dann ein Elektroauto kaufen, wenn er sich sicher sein kann, dass es genügend Möglichkeiten gibt, seinen Wagen zu laden. Und zwar zu einem guten Preis. Und nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich, Spanien oder Italien, denn die Leute möchten mit ihrem Auto ja auch in den Urlaub fahren. Hier brauchen wir eine europäische Lösung.

Müller: Man merkt bei der Vielfalt der Themen sehr schnell, dass es nicht reicht, einfach nur ein Ziel auszugeben und zu fordern: „Nun macht mal!“ Ob wir das Ziel der Transformation erreichen? Ja, daran arbeiten wir. Aber wie wir es erreichen, das ist zu einem gewissen Grad offen. Wir werden immer wieder kleinere Kurskorrekturen vornehmen, werden technische Innovationen sehen, die uns voranbringen. Was wir dabei nie vergessen dürfen, und da stimme ich Herrn Dr. Wolf ausdrücklich zu, ist der Blick auf die Lebensrealität der Menschen. Wir dürfen den Verbraucher nicht überfordern, wir müssen ihn überzeugen. Das ist der Schlüssel für eine gelungene Transformation.

Zu den Realitäten zählt eine unsichere Weltlage. Es braucht nur ein querstehendes Frachtschiff im Suez-Kanal, um die globale Wirtschaft aus der Balance zu bringen. Hinzu kommen Konflikte, Protektionismus, die Pandemie. Herr Dr. Wolf, wie erleben Sie als Unternehmen diese Volatilität?

Wolf: Es gibt Lieferengpässe, keine Frage. Die Rede ist häufig von Speicherchips. Die fehlen tatsächlich, aber es gibt eine Reihe weiterer Knappheiten, die uns noch stärker treffen. Wir haben Lieferprobleme bei Stahl, Aluminium und Kunststoffgranulaten. Hinzu kommen explodierende Energiekosten, insbesondere in Deutschland. Wir sind weltweit an 45 Standorten tätig, die heimischen haben mit Abstand die höchsten Energiekosten. Ich bin zuversichtlich, dass sich diese Engpässe wieder einrenken werden. Aktuell sorgen die Bedingungen jedoch dafür, dass Planung zur Herausforderung wird.

„Die Menschen wollen Freiheit, weshalb auch 2050 die individuelle Mobilität von größter Bedeutung sein wird.“

Dr. Stefan Wolf,
CEO der ElringKlinger AG

Was ist in dieser volatilen Situation das Erfolgsrezept für die Unternehmen der Automobil- und Zulieferindustrie?

Müller: Es ist nie verkehrt, als Unternehmen seine Kernkompetenzen zu stärken, sprich das auszubauen, was man besser kann als alle anderen. Fakt ist aber auch, dass die Grenzen zwischen den Branchen verwischen. Die Digitalisierung ermöglicht komplett neue Geschäftsmodelle, und es ist für Unternehmen gewinnbringend, sich immer wieder zu fragen: Gibt es neue Bereiche, in die wir hineingehen können? Die Zeiten sind unruhig, keine Frage. Aber Unternehmen bieten solche Zeiten immer auch Chancen. Die Entwicklung von ElringKlinger ist dafür ja das beste Beispiel.

Wolf: Wir haben tatsächlich bereits vor 20 Jahren angefangen, zunächst Stacks und dann komplette Systeme für Brennstoffstellen zu entwickeln, mit der Batterietechnologie haben wir vor rund 15 Jahren begonnen. Beide Techniken bieten wir heute serienreif an. Der Hintergrund dieser strategischen Entscheidungen war meine Prognose damals, dass die Anzahl der Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren irgendwann zurückgehen wird. Dass es so schnell gehen wird, hätte ich nicht gedacht. Dass es aber so kommen wird – da war ich mir sicher. Und da wir damals als Zulieferer sehr stark vom Verbrennungsmotor abhängig waren, war es mein Job als Unternehmer, Wege zu finden, diesen absehbaren Verlust zu kompensieren.

Wo haben Sie bei diesen Überlegungen angesetzt?

Wolf: Bei der Frage: Was können wir? Zylinderkopfdichtungslagen produzieren zum Beispiel: dünne, metallische Platten – gestanzt, geprägt, wärmebehandelt und beschichtet. Was wiederum benötigt man für einen Brennstoffzellenstack oder für Zellverbinder auf den Batteriemodulen? Dünne, metallische Platten – gestanzt, geprägt, wärmebehandelt und beschichtet. Unsere Aufgabe war es also, das, was wir können, auf neue Produkte zu übertragen. Das ist uns gelungen, weshalb wir bereits ein gutes Stück weiter sind als diejenigen Unternehmen, die gerade erst mit der Transformation beginnen.

Klingt ganz einfach.

Wolf: War es aber nicht immer. (lacht) Ich erinnere mich an harte Diskussionen im Aufsichtsrat, wenn wir im Vorstand mal wieder 10 oder 20 Mio. EUR für Investitionen benötigten. Ich wurde dann häufig mit der Frage konfrontiert: „Wann kommt denn da unterm Strich etwas bei raus?“ Heute wissen auch diese kritischen Stimmen, wozu das gut war.

Müller: Diese unternehmerische Weitsicht ist es, die dafür sorgt, dass deutsche Unternehmen aus der Automobilindustrie zu Weltmarktführern werden. Man benötigt einiges an Kraft, um zu sagen: Die Investition von heute wird sich erst in zehn Jahren auszahlen. Das ist nicht immer einfach zu kommunizieren, aber ich bin mir sicher, dass es auch beim Thema Klimaschutz so kommen wird: Wir investieren jetzt für einen Return, der sich später einstellen, dann aber nachhaltigen Erfolg bringen wird.

„Wir dürfen den Verbraucher nicht überfordern, wir müssen ihn überzeugen. Das ist der Schlüssel für eine gelungene Transformation.“

Hildegard Müller, Präsidentin des VDA

Wenn wir auf das Jahr 2030 blicken, welche Mobilität werden wir dann erleben, welche Rolle wird das Auto spielen?

Wolf: Der Anteil an reinen Elektrofahrzeugen wird hoch sein, die Brennstoffzelle wird sich in vielen Lkw und Nutzfahrzeugen finden. Es wird aber auch weiterhin Hybrid-Anwendungen geben, also Kombinationen aus Elektro- und Verbrennungsantrieben. Nicht wenige der hochentwickelten Autos werden bereits autonom unterwegs sein, ihr Design ist modern und attraktiv. Kurz: tolle Produkte, die wir von Deutschland aus weltweit erfolgreich vermarkten werden. Entsprechend attraktiv wird es für junge Menschen sein, in unserer Branche an Zukunftstechnologien zu arbeiten. Wir erkennen schon heute, dass der Ingenieursnachwuchs großes Interesse an Jobs in diesen Bereichen hat.

Müller: Ich halte generell nicht viel von der Behauptung, die kommenden Generationen würden im großen Maße das Interesse am Auto verlieren. Neue Zahlen zeigen, dass immer mehr junge Menschen ein Auto besitzen. Die Begeisterung der jungen Menschen fürs Autofahren wächst also durchaus – und diese Entwicklung wird sich noch verstärken, wenn die Fahrzeuge immer klimaschonender, autonomer und digitaler unterwegs sind. Dadurch wird sich ein vollkommen neues Autofahrgefühl entwickeln. Wir müssen aber natürlich Mobilität neu denken und brauchen eine bessere Vernetzung der Verkehrsträger – gerade in den Städten.

Fahren wir 2030 noch Auto – oder werden wir eher Nutzer eines Autos sein?

Müller: Tatsächlich eher ein Nutzer. Daraus ergibt sich ein großer Mehrwert, weil wir die Möglichkeit haben, unsere Fahrtzeiten für andere Tätigkeiten zu nutzen – lesen, arbeiten, spielen. Und Fahren wird noch sicherer, sauberer und komfortabler sein.

Wolf: Hinzu kommt, dass das Auto zum Kommunikator werden wird. Viel mehr als heute wird es die Rolle eines fahrenden Büros einnehmen, in dem wir vernetzt arbeiten, Calls durchführen und virtuelle Meetings abhalten. Und während wir heute noch im Auto eher abgekapselt von der Umwelt unterwegs sind, wird es 2030 die Möglichkeit geben, dass Kinos, Konzertsäle oder auch Restaurants, an denen wir vorbeifahren, über digitale Medien relevante Informationen ins Auto spielen können.

Müller: Als jemand, die immer auf der Suche nach guten Restaurants ist, freue ich mich darauf. (lacht) Möglich sind zudem ganz neue Parkleitsysteme, die das Suchen nach einem Parkplatz deutlich vereinfachen. Während dies vor allem ein Thema für die großen Städte ist, werden wir in ländlichen Regionen erleben, dass autonom fahrende Systeme die Aufgabe des ÖPNV mitübernehmen und damit das Mobilitätsangebot dort entscheidend verbessern. Mit diesen neuen Services werden wir immer dann erfolgreich sein, wenn es uns gelingt, die Bedarfe der Menschen zu decken und sie in ihrer Lebensrealität zu unterstützen. Mobilität bedeutet Teilhabe – und das Auto ist der Garant, wenn es darum geht, diese Teilhabe herzustellen.

„China ist und bleibt ein gigantischer Wachstumsmarkt, und es wäre fahrlässig, unsere Erfolge dort aufs Spiel zu setzen.“

Dr. Stefan Wolf,
CEO der ElringKlinger AG

Wir sitzen hier im besonderen Ambiente des China Club in Berlin zusammen, reden wir also über China: Wie entwickelt sich dieser Markt für die deutsche Autoindustrie?

Wolf: China ist und bleibt ein gigantischer Wachstumsmarkt, und es wäre fahrlässig, unsere wirtschaftlichen Erfolge aus politischen Gründen aufs Spiel zu setzen. Verlieren wir dort an Boden, gefährdet das bei uns in Deutschland Arbeitsplätze und damit den Wohlstand. Auch uns besorgt die Situation der Menschenrechte in China, ich bin aber der festen Überzeugung, dass die Beschränkung wirtschaftlicher Kontakte in keiner Weise zu Verbesserungen beiträgt. Im Gegenteil, jede gekappte Verbindung gefährdet den Dialog. Zumal Unternehmen anderer Länder nur darauf warten, in diese Märke vorzustoßen – und das kann nicht im Interesse der deutschen Wirtschaft sein.

Müller: Herr Dr. Wolf hat Recht. Gesprächsfäden abreißen zu lassen, ist das schlechteste, was man in einer solchen Situation machen kann. Ich finde generell, die Wirtschaft sollte ihre Rolle als Wegbereiter für den Austausch und für positive Entwicklungen deutlicher kommunizieren. Unternehmen sind gesellschaftliche Akteure, die die Zukunft entscheidend mitgestalten. Die deutsche Autoindustrie fungiert direkt und indirekt für fast vier Millionen Menschen in Deutschland als Arbeitgeber. Damit besitzen die Unternehmen unserer Branche eine große Verantwortung, der sie in aller Regel auch gerecht werden, zum Beispiel durch ihr vielfältiges Engagement oder die Entwicklung von Zukunftstechnologien für mehr Klimaschutz. Erzählen wir davon! Herr Dr. Wolf, Sie sind in dieser Hinsicht als positiver, konstruktiver und diskussionsfreudiger Mensch, der sich einbringt, ein sehr gutes Beispiel. Das ist sehr hilfreich, und ja: Davon bräuchten wir mehr.

Zum Abschluss ein Gedankenspiel: Wenn Sie an die Mobilität 2050 denken – was haben Sie da als Erstes vor Augen?

Müller: Ich werde in einem autonomen Auto sitzen und dort wunderbare Features nutzen, von denen ich heute noch gar keine Vorstellung habe. Ich lasse mich da gerne vom Erfindergeist der Unternehmen überraschen.

Wolf: Die Menschen wollen Freiheit, weshalb auch 2050 die individuelle Mobilität von größter Bedeutung sein wird. Die Autos werden anders aussehen, sie werden fantastische Sachen beherrschen, aber ihre Kernaufgabe wird es weiterhin sein, die Menschen von A nach B zu bringen: bequem, schnell und klimaneutral.

Durch das Gespräch führte André Boße.

„Mobilität bedeutet Teilhabe – und das Auto ist der Garant, wenn es darum geht, diese Teilhabe herzustellen.“

Hildegard Müller, Präsidentin des VDA

Hildegard Müller ist seit Februar 2020 Präsidentin des Verbandes der Automobilindustrie (VDA). Sie begann ihre berufliche Karriere mit einer Ausbildung zur Bankkauffrau bei der Dresdner Bank. Ihr Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf schloss sie 1994 als Diplom-Kauffrau ab. Nach Abschluss ihres Studiums kehrte Müller zur Dresdner Bank zurück, wo sie zuletzt als Abteilungs­direktorin tätig war. Von 2002 bis 2008 war sie Mitglied des Deutschen Bundestages, von 2005 bis 2008 Staatsministerin bei der Bundeskanzlerin Angela Merkel. Ab 2008 übernahm sie den Vorsitz der Hauptgeschäfts­führung des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft, im Anschluss war sie als Chief Operating Officer Grid & Infrastructure beim Energie-Unternehmen Innogy tätig.