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Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie erreichten sehr schnell die Lieferketten. Das Virus traf damit einen besonders sensiblen Punkt in unserer global verflochtenen Industriewelt, aus der grenzüberschreitender Warenverkehr, Just-in-time-Belieferungen und passgenaue Zulieferprodukte nicht mehr wegzudenken sind. Auch bei ElringKlinger hatte die Krise massive Auswirkungen auf die Aktivitäten des Einkaufs und des Supply Chain Managements. Trotz vieler Engpässe gelang es dem Unternehmen, seinen operativen Betrieb im Ausnahmejahr 2020 nahezu störungsfrei aufrechtzuerhalten. Welche Herausforderungen bestanden, erläutern die für die genannten Bereiche jeweils verantwortlichen Leiter Bernd Weckenmann und Jorin Preuß.

Bernd Weckenmann leitet seit 2016 den globalen Einkauf der ElringKlinger­-Gruppe. Gleich zu Beginn seiner Tätigkeit ordnete er den Bereich durch eine Matrixorganisation neu. Dadurch konnten Bedarfe konzernweit stärker gebündelt, gesteuert und mehr Skalen­effekte erzielt werden. Bei einem jährlichen Einkaufsvolumen von rund 800 Mio. Euro wirkt sich jede Opti­mierung in seinem Verantwortungs­be­reich bedeutsam auf den Konzern­erfolg aus. Mit der Grundhaltung einer partnerschaftlichen Lieferantenbe­ziehung ist Bernd Weckenmann auf einem guten Weg. Seine Devise: „Am Schluss muss das Geschäft allen Spaß machen – dem Lieferanten ebenso wie uns!”

Jorin Preuß verantwortet seit 2016 das Supply Chain Management (SCM) des ElringKlinger-Konzerns. Damit repräsentiert er die Steuerzentrale der Materialversorgung im weltweiten operativen Geschehen. Das SCM sorgt für den reibungslosen Warenfluss in der gesamten Lieferkette – von den Zulieferern über die Produktion bis zu den Kunden, vom Rohmaterial über Zwischenprodukte bis zum Endprodukt. Zu Jorin Preuß’ Herausforderungen zählt die langfristig angelegte Strategie, das Net Working Capital (Nettoumlaufvermögen) im ElringKlinger-Konzern weiter zu optimieren. Erfolge zeigten sich bereits in stark verbesserten Kapitalflüssen. Sein Credo: „Immer eine Handbreit Wasser unterm Kiel!”

Was im Frühjahr 2020 infolge der Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie entlang der Lieferkette passierte, ist beispiellos: Innereuropäische Grenzschließungen behinderten Warentransporte, Bänder standen still, Konsumstopp, Lockdown. Die produzierende Industrie musste umschalten von sorgfältig durchgeplanten Prozessen auf eine Betriebsführung ohne verlässliche Vorschau. Die Pandemiefolgen zeigten sich als Erstes in China, wo auch ElringKlinger im Februar Werke schließen musste. Ab März weiteten sie sich rasant aus auf Standorte in Europa und weiter nach Amerika. Fast schlagartig und flächendeckend brachen Abrufmengen seitens der Kunden um oftmals mehr als 50 %, teilweise bis 80 %, ein, während das für die Planmengen bestellte Rohmaterial schon auf seinem Weg in die ElringKlinger-Werke war. „Stellen Sie sich einen Zug vor, der plötzlich stoppt, während von hinten immer neue Waggons hinzustoßen“, beschreibt Jorin Preuß den Zustand. Ein massiver Vorratsanstieg war die Folge, der Ende April/Anfang Mai seine stärkste Ausprägung hatte.

„Kundenbestellungen brachen schlagartig und flächendeckend dramatisch ein, aber das für die geplanten Mengen bestellte Rohmaterial befand sich bereits im Transit und konnte nicht mehr gestoppt werden.”

„Seecontainer füllten den Hof unseres Werkes in Buford, USA, weil kein Material mehr in die Fertigung abfließen konnte.”

„Bei unseren amerikanischen Werken kam uns zugute, dass wir aufgrund der amerika­nischen Zollpolitik bereits schnelle und flexible Beschaffungsstrukturen aufgebaut hatten.”

„Wir folgen dem Ansatz der „Total Cost of Ownership”. Bei der Auswahl der Beschaffungsquelle werden nicht nur Teilepreise, sondern die gesamten Beschaffungskosten inklusive Transport, Zöllen und ähnlichen Nebenkosten herangezogen.”

Im Einkauf schlugen die Pandemiefolgen zunächst ebenso hart auf. Große Einkaufsvolumina und langfristige Planungshorizonte als Idealbedingungen für Verhandlungen waren passé. Dennoch gab es Licht­blicke: Um Zölle vor allem bei Stahl und Aluminium zu vermeiden, hatte sich ElringKlinger schon im Vorjahr einen größeren Freiraum geschaffen, Lieferanten wechseln zu können. Angesichts neuer Zölle konzentrierten sich die Einkäufer zunächst auf lokale Beschaffungsquellen. Da das Angebot auf dem US-Markt jedoch deutlich zu knapp für den plötzlichen Nachfrageanstieg war, erhöhten sich die lokalen Marktpreise in der Folge so extrem, dass für ElringKlinger wiederum ein Bezug aus dem Ausland günstiger war.

Im Supply Chain Management wurde unmittelbar nach dem Aufprall der hinteren Waggons die Notbremse gezogen. Als erstes musste der In­formationsfluss an die veränderte Lage angepasst werden. „Es ist fatal, wenn der Kunde am Telefon Mengen drastisch reduziert, dies aber in den automatischen Abrufen nicht abgebildet ist“, erinnert sich Jorin Preuß. Es war schnell klar, dass unabhängig von der Rechtslage sofort ge­han­delt werden musste. Die Bedarfe wurden komplett neu durchdekliniert: Ab­rufmengen der Kunden wurden nach unten angepasst, Produktions­aufträge gestoppt und passend zu den geringeren Mengen neu ge­­startet, Bestellungen gegenüber Lieferanten reduziert.

„Die gesamte Industrie berief sich plötzlich auf Force Majeure, obwohl dieser Tatbestand nicht gegeben war. Klar war, dass nicht diskutiert, sondern sofort gehandelt werden musste, um den Schaden insgesamt so gering wie möglich zu halten.”

„Die Datenbanken müssen stimmen. Bei unserer Portfoliobreite und fast 40 Werken rund um den Globus müssen uns die Kunden in den unterschiedlichen Regionen ihre Daten sauber zuspielen, damit die operativen Prozesse funktionieren.”

„Wenn Volumen einbrechen, ist jeder Lieferant bestrebt, Auf­träge zu bekommen. Das verändert die Verhandlungsposition.”

„Für jedes Material gibt es spezifische Rahmenbedingungen. Rohstoffe werden aufgrund der Lieferketten eher längerfristig verhandelt, aber auch hier werden Marktpreisschwankungen mit ins Kalkül gezogen.”

„Um Kosten zu senken, gibt es viele Wege. Das kann zum Beispiel auch eine Prozessanpassung sein, die es unserem Lieferanten ermöglicht, günstiger zu produzieren.”

Im Einkauf sah man die Krise schon früh als Chance. Wenn bei Lieferanten plötzlich auf ganzer Linie Volumen einbrechen, verändern sich Verhandlungspositionen. „Im Prinzip haben wir das verstärkt, was wir ohnehin tun: nämlich kontinuierlich und quer durch alle Bereiche geprüft, wie wir optimal einkaufen“, so Bernd Weckenmann. Um seine Ziele zu erreichen, nutzte er unterschiedliche Instrumente. Beispiels­weise waren Vertragslaufzeiten besonders dort ein Thema, wo mit Markt­preisschwankungen gerechnet wurde. Allerdings mussten auch Ver­sorgungssicherheit und Vorlaufzeiten berücksichtigt werden – zwei Aspekte, die gerade im Coronajahr von hoher Bedeutung waren. Immer noch viel Potenzial sieht Bernd Weckenmann derzeit im Bereich von Pro­zessverbesserungen, die gemeinsam mit dem Lieferanten umgesetzt werden. „Die Zusammenarbeit führt oftmals zu Lösungen, aus denen beide Parteien einen Nutzen haben“, so der Experte.

Dank der schnellen Reaktionsmaßnahmen des Supply Chain Managements löste sich der Materialstau auf den Werkshöfen schon im Frühsommer wieder auf. In seiner Halbjahresbilanz wies ElringKlinger sogar eine deutliche Reduzierung der Vorratsbestände gegenüber dem Vorquartal aus. Diese positive Entwicklung war auch das Ergebnis eines längerfristigen Programms: Jorin Preuß und sein Team arbeiten kontinuierlich daran, die Bestände im Konzern weltweit zu senken. Dazu ist es erforderlich, dass die SCM-Mitarbeiter sehr tief in die Prozesse schauen, um Verbesserungs­ansätze im operativen Materialdurchfluss identifizieren zu können. Bei theoretisch gleichbleibendem Output weniger Vorräte vorhalten zu müssen, ist das Ziel. Erfolge zeigten sich in den verbesserten Kapitalflüssen aus operativer Tätigkeit.

„Vorräte zu reduzieren ohne den operativen Output zu gefährden, erfordert sehr tiefe Prozesskenntnisse!”

„In einem harten Ausnahme­fall wie diesem müssen Lieferant, Pro­duzent und Kunde an einem Strang ziehen, um die Gefahr der Eskalationsstufe 3, also Bänderstillstand beim OEM, abzuwenden. Durch Risikomanagement können Gefahren minimiert, aber nicht ausgeschlossen werden.”

„Gerade im Rohmaterial­bereich ist die Supply Chain lang. Nachdem wir bestellt haben, ordert unser Lieferant die Produktion der Vormaterialien wiederum bei seinem Vorlieferanten.”

Im dritten Quartal zeigte sich das Pandemiejahr ein weiteres Mal mit neuem Gesicht, wenngleich deutlich positiver. Die Kundennachfrage zog im September so stark an, dass die Rohmaterialversorgung, die zuvor massiv heruntergefahren worden war, nicht in der notwendigen Schnelligkeit wieder hochgefahren werden konnte. Während ElringKlinger bis dahin ohne Lieferkettenunterbrechung durchnavigierte, zeichneten sich im Spätherbst Engpässe ab, die den Einkauf erneut auf die Probe stellten. „Wir legen seit jeher großen Wert auf Risikomanagement, das heißt unter anderem Abhängigkeiten zu reduzieren. Aber auch das hat seine Grenzen“, betont Bernd Weckenmann am Beispiel von mehreren Serienaufträgen im Bereich Leichtbau. Ein Granulatlieferant war nicht in der Lage, die bestellten Mengen zu liefern. Zur Suche nach kurzfristigen Alternativlieferanten kam ein weiteres Problem hinzu: Das für die Serien­teile verwendete Material muss vom Kunden validiert werden, das heißt durch strenge und zeitaufwändige Genehmigungsverfahren freigegeben werden. In der vorliegenden Situation konnte eine Eskalation nur in Zusammenarbeit mit dem Kunden abgewendet werden. Durch die Einbindung der Kollegen im Vertrieb und den engen Kundenkontakt gelang es schließlich, rechtzeitig Ersatzmaterialien zu beschaffen.

Das SCM-Team um Jorin Preuß bewältigte bis zum Jahresende 2020 eine steile Lernkurve. In Vorkrisenzeiten betrug die Planungsvorschau in den Systemen zwischen sechs und zwölf Wochen. Im ersten Lockdown 2020 kollabierte dieses System. Danach musste man die Lage sehr schnell neu bewerten. Dabei hat sich das bei ElringKlinger weltweit eingesetzte ERP-System, an das fast alle produzierenden Werke angebunden sind, bewährt. „Damit konnten wir sehr schnell reagieren und uns schließlich in wöchentlichen Reviews eng abstimmen“, resümiert Jorin Preuß. Ein weiterer entscheidender Erfolgsfaktor war der tägliche Kundenkontakt seiner Mitarbeiter.

„Eine wichtige Grundlage stellte unser weltweit eingesetztes und sehr gut durchorganisiertes ERP-Informationssystem dar. Damit konnten wir innerhalb kürzester Zeit Aktualisierungen durchführen und waren sehr flexibel.”

Die Bereiche Einkauf und Supply Chain Management blicken auf ein ungewöhnlich herausforderndes Jahr mit enormen Anstrengungen zurück. Insgesamt kam ElringKlinger gut hindurch. Wie bei jeder überwundenen Herausforderung gilt auch hier: Sie macht stärker für die Zukunft. „Wir haben in der Krise Chancen wahrgenommen und genutzt. Durch Neuverhandlungen haben wir uns verbessert und unsere Flexibilität erhöht“, fasst Bernd Weckenmann zusammen. Jorin Preuß ergänzt: „Die Krise hat Abhängigkeiten schonungslos offengelegt, aber gleichzeitig waren gerade unsere enge Vernetzung und intensive Zusammenarbeit sowohl intern als auch mit Kunden und Lieferanten wichtige Schlüssel zur Bewältigung.“

„2020 war ein Jahr mit unterdurchschnittlichem Spaßfaktor – unser Lieferantenverständnis der partnerschaftlichen Zusammenarbeit hat sich aber gerade jetzt bewährt.”

Bernd Weckenmann,
Vice President Purchasing, ElringKlinger AG

 

„Rückblickend haben wir zu Beginn der Krise äußerst stark eingebremst, im Endeffekt waren aber Schnelligkeit und gute Schnittstellen zu Vertragspartnern entscheidend. Trotz niedriger Pegelstände blieb ElringKlinger damit auch 2020 im Fahrwasser!”

Jorin Preuß,
Vice President Supply Chain Management, ElringKlinger AG